In Graz inhaftiert, nach wochenlangem Nahrungsverzicht vor Gericht zusammengebrochen und so dem sicheren Todesurteil entgangen.
Wilhelm Gregorich war Lehrer in Schandorf, als Österreich vom Deutschen Reich einverleibt wurde. „Auch ich bejubelte den Anschluss. Viele Lehrer waren Anhänger der Nationalsozialisten, weil sich ihr Gehalt unter der Naziherrschaft vervielfachte.“
Doch der Pfarrer warnte: „Es kommt der Zweite Weltkrieg. Auch Sie werden schlimme Zeiten erleben.“ Der Priester verkraftete die Situation nicht und starb zehn Wochen nach dem Anschluss. Bei der Beerdigung machte Gregorich den ersten großen Fehler: Er sprach einige Worte und wurde deswegen als kirchenfreundlich und deshalb als Nazigegner eingestuft.
In den Sommerferien 1938 wurde Wilhelm Gregorich vom Bezirksschulrat Oberwart zu einer Strafkompanie geschickt, mit Beginn des nächsten Schuljahres nach Mönchmeierhof versetzt. 1940 durfte er in die Schule nach Schandorf zurückkehren, doch die Lehrerwohnung war besetzt.
Gregorich, mittlerweile verheiratet, zog daraufhin mit seiner Frau nach Rechnitz. Nicht weit von ihm lebte Josef Hotwagner, ebenfalls Lehrer. Als sie an einem Sommertag 1940 gemeinsam von der Kirche nach Hause gingen, wurden sie von Emerich Kiss, einem Nazigegner, angesprochen. Es war gegen 9:30 Uhr. „Euch beiden kann ich mich anvertrauen, ihr seid keine Nazis. In Pinkafeld sind 30 Männer eingesperrt, die sich gegen die Nazis stellten. Ihre Frauen und Kinder bekommen nichts. Bitte gebt mir doch ein bisschen Geld, ich möchte diesen Familien helfen.“
Gregorich und Hotwagner gaben dem Mann fünf Reichsmark. Eine Banknote. „Wir waren froh und glücklich, diesem Mann geholfen zu haben.“ Diese fünf Mark hätten Wilhelm Gregorich beinahe das Leben gekostet. Wenige Monate später wurde er von einem Lehrerkollegen verraten.
Die Verhaftung
Am 11. August 1941 kam Gregorich kurz vor 19 Uhr nach Hause, um über den Volksempfänger „Die Stimme Englands“ zu hören. Der Pfarrer eines Nachbarortes erwartete ihn vor dem Haus und sagte: „Du und Josef Hotwagner werdet gleich von der Gestapo abgeholt.“
Nicht einmal einen Abschiedskuss durfte Gregorich seiner Frau geben. Er wurde in die Gestapozentrale in die Bahnhofstraße geführt. Stundenlange Verhöre folgten, Gregorich blutig geschlagen. „Ich sollte zugeben, dass ich das Geld für eine verbotene Partei gab.“ Schließlich mussten Gregorich und Hotwagner ein Protokoll unterschreiben, in dem sie sich als Hochverräter deklarierten.
Beide wussten: Auf Hochverrat stand die Todesstrafe.
Am nächsten Tag, das Blut klebte immer noch in seinem Gesicht, wurden Gregorich und sein Freund Hotwagner nach Oberwart gebracht. Nach zwei Monaten Haft folgte die Überstellung in das Landesgericht Graz. „Hier wurden wir zu zehnt in eine Zelle gesperrt, die für fünf Häftlinge ausgerichtet war.“
Eines Tages wurde er einem Rechtsanwalt vorgeführt. „Die Nazis wiesen jedem Häftling pro forma einen Rechtsanwalt zu.“ Der Anwalt beschrieb die Situation in knappen Worten: „Hier ist die Anklageschrift des zweiten Senates des Volksgerichtshofes, datiert vom 27. Juni 1942. Ich mache Sie aufmerksam, Sie werden geköpft.“
Gemeinsam mit vier Arbeitern aus dem Südburgenland sollten die beiden Lehrer angeklagt werden. „Eine innere Stimme sagte mir: Iss nichts. Ich nahm bis zur Verhandlung keine feste Nahrung zu mir, sechs Wochen lang.“ Er verschenkte sein Essen, die Mitgefangenen freuten sich darüber. Gregorich selbst nahm nur Wasser zu sich.
Bis zum Tag der Verhandlung magerte er auf 42 Kilo ab. Der Gerichtssaal war voll, auch Parteigrößen aus Rechnitz waren gekommen. „Wir zitterten.“
Zuerst mussten alle ihre Personalien bekannt geben. „Ich sagte, dass ich verheiratet bin, ein Kind habe und von Beruf Lehrer bin.“ In diesem Moment sackte Gregorich in sich zusammen und gab vor, bewusstlos zu sein. „Ich hörte natürlich alles, was um mich geschah.“ Der Vorsitzende sprang auf und schrie „Was ist da los, noch nie ist uns einer verreckt!“
Im vermeintlich besinnungslosen Zustand wurde Gregorich aus dem Saal getragen. Der Anstaltsarzt wurde verständigt. „Er rammte mir eine Spritze in meine linke Hand.“ Doch Gregorich spielte weiter den Bewusstlosen. Nach kurzer Zeit verlor der Arzt die Nerven und schrie: „Mit diesem Deppen ist nichts zu machen!“, und verschwand.
Gregorich wurde dennoch in den Saal zurückgebracht. Er hatte Angst, seine Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn er jetzt weiterhin den Bewusstlosen mimen würde. „So kam ich zu mir, spielte aber den Verrückten. Und auch den habe ich gut gespielt.“
„Angeklagter, was soll ich mit Ihnen tun?“, fragte der Vorsitzende. Gregorich bat um Fortsetzung der Verhandlung. Es war ihm klar, wenn er um Verlegung der Verhandlung bitten würde, würde das Spiel aufgedeckt werden.
Gregorich sprang auf und tat, als hätte er weder Hände noch Stimme unter Kontrolle. Der Richter verlor die Geduld: „Der Mann ist nicht normal. Mit ihm kann man nichts machen. Hinweg mit ihm“. „Das war mein Glück. Ich wäre heute nicht mehr am Leben.“
Auch der zweite Lehrer, Josef Hotwagner, wurde abgeführt. Tage später wurde in Rechnitz folgende Kundmachung veröffentlicht: „Die am 13. August 1942 vom Volksgerichtshof wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Tode verurteilten Johann Untenecker, 48 Jahre, Johann Balaskovics, 46 Jahre, Michael Balogh, 45 Jahre, Emerich Kiss 44 Jahre, sind heute hingerichtet worden. Berlin, 18. Dezember 1942“.
Alle Mitangeklagten wurden geköpft. Auch Emerich Kiss, dem Gregorich und Hotwagner die fünf Mark gespendet hatten.
Wilhelm Gregorich und Josef Hotwagner erfuhren im Dezember 1942, dass sie vom Todessenat abgekuppelt und an den sechsten Wiener Senat überstellt würden. Dieser Senat hatte bis dahin noch nie eine Hinrichtung befohlen.
Die Verhandlung in Wien dauerte nicht lange. Der Vorsitzende sprach schon nach kurzer Zeit das Urteil: „Ich verurteile die beiden Angeklagten zur Höchststrafe.“ erschrak. Er dachte, Höchststrafe sei gleichbedeutend mit dem Tod. Doch Höchststrafe bedeutete an diesem Zivilgericht zehn Jahre Gefängnis und Ehrverlust.
Das Kriegsende
Gregorich und Hotwagner wurden in Straubing eingekerkert. Mit 4.000 Inhaftierten war dies die größte Haftanstalt im Deutschen Reich. In der Nacht zum 25. April 1945 räumten die Nazis das Gefängnis. Ein Aufseher sagte zu Gregorich: „Versucht zu flüchten, ihr kommt nach Dachau. Dort werdet ihr vergast.“ Josef Hotwagner blieb im Gefängnis zurück, er litt an Tuberkulose. Während des Fußmarsches in das Konzentrationslager gelang Wilhelm Gregorich die Flucht.
Kurz nach Kriegsende kehrte Wilhelm Gregorich in das Gefängnis von Straubing zu Josef Hotwagner zurück. Sein Freund starb kurz danach in seinen Armen.
Die Zeit nach 1945
1978 ging Wilhelm Gregorich nach 32 Dienstjahren als Direktor der Hauptschule in Rechnitz in Pension. Seit 1989 erzählte er in mehr als 1.000 Schulklassen von seinen Erlebnissen. Für diese Tätigkeit wurde ihm auf Vorschlag des Bildungsministeriums der Berufstitel „Professor“ verliehen.
1.000 Schulklassen, denen er anhand seiner Geschichte eines klar machte: „Die schlechteste Demokratie ist besser als die beste Diktatur.“